Einen Vierteljahrestag nach dem Ereignis, das das Geschehen in Israel für immer verändert hat, wirkt Sderot weiterhin wie eine Geisterstadt. Katzen und herrenlose Hunde durchstreifen farbenfroh bemalte Luftschutz-Unterstände, welche alle in greifbarer Nähe voneinander stehen. Hier bleibt nur fünf Sekunden, um Schutz zu suchen, wenn die Sirenen einen Angriff aus dem nahen Gazastreifen melden. Doch am 7. Oktober erfuhr die Stadt etwas weit Schlimmeres als das übliche Geschoss.
„Wir sind Raketen gewohnt, wir leben damit“, berichtet die Verwaltungsmitarbeiterin Gitit Botera. „Aber am 7. Oktober ist etwas zerbrochen, die Widerstandsfähigkeit. Du sitzt in deinem Zuhause und jemand versucht, dich umzubringen. Ich weiß nicht, ob ich zurückkehre, ich weiß überhaupt nichts. Tränen fließen die ganze Zeit.“
Gitit Habeck erzählt in Israel: „Tränen fließen die ganze Zeit“ – er nimmt sie in den Arm
Botera berichtet dem deutschen Vizekanzler Robert Habeck ihre Geschichte, der an diesem Donnerstagmorgen in die zur Geisterstadt gewordene Sderot gekommen ist, bevor er in Jerusalem israelische Politiker trifft. Einige Menschen kommen zur Arbeit in die Kleinstadt, aber viele trauen sich nicht zurückzukehren. Der Grünen-Politiker Habeck und seine Begleitung tragen Schutzwesten, aus dem weniger als fünf Kilometer entfernten Gazastreifen sind gelegentlich gedämpfte Explosionen zu hören. An manchen Fassaden sind Spuren von Einschüssen zu sehen.
Als am 7. Oktober ebenfalls palästinensische Terroristen ihre Stadt überfielen, griff Botera ein Küchenmesser und floh mit ihrer vierjährigen Tochter Adele in einen Luftschutzraum. Sie hielten dort zehn Stunden aus, ohne Licht, Essen und Wasser. Adele fragte, warum sie nicht sprechen solle – weil jemand versuche, sie umzubringen? Am Ende nimmt Habeck Botera in den Arm.
„Wir wurden auf schändlichste Weise überrascht“, sagt Armeesprecher Arye Shalicar, der in seiner grünen Uniform neben Habeck auf einem weißen Plastikstuhl sitzt. Dass die Hamas Israelis töten wolle, war zu erwarten, aber die Grausamkeit ihres Vorgehens nicht. Habeck erkundigt sich nach der Möglichkeit einer Eskalation des Konflikts, falls Israel militärisch gegen die Hisbollah-Miliz im Libanon vorgehen sollte, und nach der Gefahr, dass die nächste Generation in arabischen Ländern radikalisiert wird. „Diplomatie wäre natürlich wünschenswert“, sagt Shalicar.
Habeck in Israel sieht mit Armeevertretern ein brutales Video vom Hamas-Überfall
Vor allem spricht er über die Notwendigkeit zu zeigen, dass man es auch militärisch ernst meine. Der deutsche Botschafter Steffen Seibert, der mit im Rund sitzt, unterstützt Habeck: „Unser ganzes Argument ist immer: Gebt der Diplomatie noch Zeit, und nicht nur eine Woche.“
Gemeinsam schauen sie alle ein Video vom 7. Oktober in Sderot, einen Zusammenschnitt aus Bildern einer Überwachungskamera und der Bodycam eines Polizisten. Es zeigt, unscharf, das Mündungsfeuer von Schusswaffen junger Männer, die in den Ort fahren. Menschen fliehen vor ihnen, einige fallen hin und stehen nicht wieder auf. Ein Angreifer stirbt auf offener Straße. Einmal läuft eine Blutlache ins Bild. Und diese Szenen zeigen nicht einmal das, worüber Habecks Gesprächspartner nur fassungslos sprechen, die Verstümmelung und Folter von Opfern, die Tötung von Babys.
Wenn Israel die Hamas nicht ausschalten könne, dann werde nichts aufhören, sagt Bürgermeister Alon Davidi, der Habeck im Krisenzentrum des Ortes weitere Aufnahmen zeigt. „Gaza wird weiterhin ein dunkler Ort ohne jede Zukunft sein.“ Die Hoffnung auf bessere Nachbarschaft ganz begraben will er nicht: Wenn die Hamas weg sei und der Gazastreifen demilitarisiert werde, dann könne dieser „ein wundervoller Ort“ sein. Die Vorstellungskraft von Armeesprecher Shalicar reicht weniger weit: „Ein Seite-an-Seite in Ruhe ist mir persönlich schwer vorstellbar.“