Im Jahr 2024 wird es ein Festival der Demokratie geben: Wahl kommt von Auswahl. Ungefähr 4,2 Milliarden Menschen aus 76 Ländern, was mehr als der Hälfte der erwachsenen Weltbevölkerung entspricht, werden an die Urnen gerufen.
Unter ihnen befinden sich acht der zehn bevölkerungsreichsten Länder der Welt, nämlich Indien, Indonesien, Pakistan und die USA. Darüber hinaus wählt der Staatenverbund EU mit fast einer halben Milliarde Menschen ein neues Parlament.
Dennoch wird in weiten Teilen der Öffentlichkeit, vor allem in vielen Medien und Denkfabriken des Westens, anstatt eines weltweiten Jubels über die Umsetzung der großen Idee von der Res Publica, Trauer empfunden. Larry Diamond, Professor an der Stanford University, behauptet: “Es gibt einen Zeitgeist, und der ist nicht demokratisch”. Er erlebt seit zehn Jahren eine “demokratische Rezession”.
Kevin Casas-Zamora, Leiter des International Institute for Democracy and Electoral Assistance in Stockholm, sagt: “Die Unterstützung für die Demokratie befindet sich unter jungen Leuten im freien Fall”. Und in jeder Lokalzeitung wird mittlerweile vor dem “Aufstieg der Populisten” gewarnt. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken denkt öffentlich über ein Verbot der AfD nach. Ihr Urteil lautet: “Sie ist ganz klar demokratiefeindlich.”
Es könnte scheinen, dass einige Politiker, die in jungen Jahren als Befürworter der Demokratie auftraten, mittlerweile Angst vor zu viel Volk haben. Dabei ist die Demokratie des Westens nicht in Gefahr, sondern wird genutzt. Die Populisten von Links und Rechts verachten die Demokratie nicht, sondern machen Gebrauch von ihr. Hier sind sechs handfeste Gründe, warum wir das Vertrauen in unsere Demokratie nicht leichtfertig aussetzen sollten:
1. Junge Menschen sind nicht grundsätzlich politikverdrossen.
Sie erwarten jedoch, dass bei den für sie wichtigen Themen, wie dem Klimaschutz, nicht nur gesprochen, sondern auch gehandelt wird. In den USA sicherten die Wähler unter 30 Jahren einem Kandidaten wie Joe Biden die Präsidentschaft. Bei den letzten Bundestagswahlen in Deutschland stimmten die Erstwähler mehrheitlich für die Liberalen und nicht für die AfD.
2. Warnungen vor dem Vormarsch des Rechtspopulismus stellen sich oft als unbegründet heraus.
Beispiel Polen: Im Oktober 2023 konnte die “Koalicja Obywatelska” unter der Führung von Donald Tusk einen Sieg gegen die nationalpopulistische Regierungspartei PiS (“Recht und Gerechtigkeit”), die acht Jahre lang an der Macht war, erzielen.
Beispiel Frankreich: Die Front National, die sich heute Rassemblement National nennt, konnte unter der Führung von Marine Le Pen im Stichentscheid zur Präsidentschaftswahl immer noch gestoppt werden. Die klare Mehrheit der Franzosen möchte nicht nach rechts marschieren, weshalb Marine Le Pen nun selbst zentristische Töne anschlägt. Auch sie will die EU nicht mehr verlassen.
3. Bei Rechtspopulisten an der Macht setzt oft ein Prozess der Transformation ein.
Die radikalen Parolen, wie die von Giorgia Meloni in Italien, die beim Aufstieg hilfreich waren, werden in den hohen Regierungsämtern wie eine abgestreifte Schlangenhaut behandelt. Ein pragmatischer Alltagssinn wird eingeführt, um die Rechtspopulisten in der Mitte der Gesellschaft zu verankern. Es muss darum gehen, “Mauern zu errichten, Seeblockaden zu verhängen”, sagte Meloni einst in martialischem Ton. Heute spricht sie deutlich abgeschwächt von der “gemeinsamen Verteidigung der EU-Außengrenzen”.
4. Wo diese Transformation nicht gelingt, wird der Populismus früher oder späterunerfüllt.unbeliebt.
Im Januar 2022 verlor Jair Bolsonaro, der rechtspopulistische Präsident Brasiliens, die Macht. Im Januar 2023 siegte in Tschechien der pro-westliche Kandidat Petr Pavel bei den Präsidentschaftswahlen gegen den populistischen ehemaligen Premierminister Andrej Babiš. In Spanien konnte der sozialistische Ministerpräsident Pedro Sánchez im Juli 2023 die Herausforderer von der konservativen Partido Popular (PP) und der rechtspopulistischen Vox-Partei besiegen.
5. In der Nachkriegsgeschichte sind alle Extremen früher oder später gescheitert.
Dazu zählen die Eurokommunisten um Enrico Berlinguer, die Republikaner des Franz Schönhubers und auch die britische UK-Ausstiegspartei des Nigel Farage. Die drei rechtsextremen und nationalistischen Parteien Griechenlands – die „Spartaner“, „NIKI“ und „Elliniki Lisi“ (Griechische Lösung) – erreichten bei den Wahlen 2023 zusammen nur 13 Prozent. Farages Gruppe ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.
6. Alle westlichen Demokratien haben robuste Checks and Balances, die in der Verfassung verankert sind.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat die Macht der Ampel-Koalition mehrfach begrenzt. In Amerika streitet sich der Rechtsstaat mit Donald Trump und klärt die Hintergründe der Erstürmung von Capitol Hill am 6. Januar 2021 auf.
Auch in Großbritannien musste Premierminister Boris Johnson nach Ermittlungen von Scotland Yard schließlich zurücktreten – genauso wie in Österreich der konservative Aufsteiger Sebastian Kurz von der ÖVP nach Korruptionsvorwürfen, denen die Staatsanwaltschaft nachging. Die Allmacht der scheinbar Allmächtigen war immer nur von kurzer Dauer.
Fazit: Sollten die deutschen Sozialdemokraten jetzt unter rechtspopulistischem Druck leiden, sollten sie nicht die Warnsignale ignorieren, sondern bei sich selbst nach Fehlern suchen. Die Demokratien sind widerstandsfähig und die Wähler klüger, als viele denken. Oder klarer ausgedrückt: Das Volk muss nicht vor sich selbst beschützt werden.