Die Atmosphäre ist düster, der Unmut weit verbreitet – auf dem Bundesparteitag in Karlsruhe stehen den Grünen intensive Debatten bevor. Die Basis brodelt seit Monaten angesichts der Ampelpolitik. Ob Klima-, Migrations- oder Sozialpolitik: Teile der Partei sehen ihre Kernwerte verraten und wollen nun Gehör finden.
Parteitag der Grünen: „Auseinanderdriften der Basis“.
Eine genaue Einschätzung des Anteils der unzufriedenen Kritiker ist aufgrund der Zurückhaltung in den Kommunalverbänden schwer zu treffen. Offizielle Äußerungen sind rar, da die einzelnen Gruppen mögliche Nachteile befürchten, etwa bei der anstehenden Nominierung der Kandidaten für die Europawahl oder bei eigenen Anliegen. Ein „Auseinanderdriften der Basis“ wird aber von einem Parteifunktionär angesprochen. Ein offener Brief an den Bundesvorstand mit dem Titel „Zurück zu den Grünen“ hat bis Mittwochabend mehr als 500 Unterschriften erhalten, wie die ARD berichtet.
Es wird betont, dass es ein Dilemma darstellt, wenn die Ansprüche an ein Mandat und die Zwänge des Amtes miteinander kollidieren. Einmal an der Macht, geraten die edlen Ideale oft in den Hintergrund. Es wird der Wunsch geäußert, dass die Partei wieder mehr Beachtung findet. Eine Regierungsbeteiligung bedeutet zwangsläufig Kompromisse. Entscheidend ist jedoch, was die Grünen im Gegenzug für ihre Zugeständnisse erhalten. Einigen Parteimitgliedern zufolge steht auf der positiven Seite zu wenig.
Elina Schumacher, Mitglied des Landesvorstands der Grünen Jugend in Berlin und Erstunterzeichnerin des Briefes, betont die Grundwerte der Partei in Bezug auf Klimaschutz und Migration und äußert Kritik an der Regierung und Teilen der eigenen Bundestagsfraktion, die anscheinend völlig entgegengesetzt handeln.
„Wir rennen der Debatte hinterher“
In den vergangenen Monaten mussten die Grünen einiges ertragen: Die Forderungen im Zusammenhang mit der Braunkohle wurden erfüllt, während LNG-Terminals für die Gasversorgung gebaut werden sollen. Gleichzeitig sollen die Sektorziele im Klimaschutz gestrichen werden. Die Grünen unterstützten auch die Zuteilung von zusätzlichen 100 Milliarden Euro an die Bundeswehr. Auf der anderen Seite mussten sie jedoch Abstriche bei ihrem Herzensthema, der Kindergrundsicherung, machen. Für den ökologischen Umbau der Wirtschaft fehlen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 60 Milliarden Euro.
Die Grünen sehen eine Verschiebung des Diskurses nach rechts in der Asylpolitik, dem die Führung bereitwillig folgt. Ein Mitglied bemerkt, dass sie der Debatte hinterherlaufen, anstatt Kurs zu halten; dies sei weder für die Situation im Land noch für die Umfragewerte förderlich. Die 400 Unterzeichner des offenen Briefes werfen ihrer Parteiführung vor, zu einer „Werbeagentur für schlechte Kompromisse“ zu verkommen. Das trifft ins Mark.
Heikler Vorwurf für die Spitze: Basis wird nicht einbezogen
Die Unzufriedenheit der Parteimitglieder zeigt sich auch in der Entscheidungsfindung: „Ideen werden in kleinen Gremien entschieden und man versucht, sie der Partei zu verkaufen“, lautet die Kritik. Die sogenannte Sechserrunde aus den Kabinettsmitgliedern Annalena Baerbock und Robert Habeck, den Parteichefs Omid Nouripour und Ricarda Lang sowie den Fraktionschefinnen Katharina Dröge und Britta Haßelmann bestimmt die Richtung, so wird bemängelt. Fachgremien wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Migration und Flucht werden dagegen kaum einbezogen.
Die Partei entfernt sich mit ihrer Politik „von oben“ von ihren basisdemokratischen Grundwerten. Der Basis werden keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr eingeräumt. Zudem hat die Bundesspitze verstärkt versucht, den innerparteilichen Diskurs zu unterbinden. Dieser Vorwurf ist für die oberste Führung der Grünen besonders heikel. Denn die kontroverse innerparteiliche Diskussion und die Einbindung der Basis gehören zu den Grundpfeilern der Partei.
Eine offene Rebellion bei den Vorstandswahlen auf dem Parteitag ist aber unwahrscheinlich, vermuten sogar die Kritiker der Ampelpolitik innerhalb der Grünen. Auch einen Bruch der Koalition halten sie nicht unbedingt für zielführend. Die Wahlen in Berlin und Hessen haben gezeigt, dass die SPD für die CDU der bevorzugtere Koalitionspartner ist; ohne Regierungsbeteiligung wäre der Handlungsspielraum noch geringer. Vielmehr ist es wohl wichtig, die Führung wieder näher an die Basis heranzuführen – was neuen Sprengstoff für die ohnehin angeschlagene Regierung bedeuten könnte.